Morgana Petrik sprach mit Semier Insayif über seinen Gedichtband »Herzkranzverflechtung«. Am 12. Mai bringen Star-Countertenor Tim Severloh, das Ensemble Reconsil und der Dichter selbst sechs neue Kompositionen zur Uraufführung, deren Textgrundlage Semier Insayifs »herzkranzverflechtung« bildet.
Wie kam es zu dieser Programmidee?
Zuerst war es wohl die Faszination des Sonettes an sich und das Phänomen des Sonettenkranzes im Speziellen. Und dann Verszeilen wie: „Ist Liebe lauter nichts / wie dass sie mich entzündet?“ – so hebt das 132. Sonett von Francesco Petrarca in der Übersetzung von Martin Opitz an. Mir schwebte eine Art Korrespondenz über Jahrhunderte hinweg vor. Das alles löste aufregende und bereichernde Prozesse in mir aus und so gab es kein Zurück mehr. Das Projekt „herzkranzverflechtung“ begann sich in mir unaufhörlich abzuzeichnen und drängte von innen heraus nach Verwirklichung. Ich beschäftigte mich intensiver mit der Geschichte des Sonettes, reiste u.a. nach Arquà Petrarca, wo Petrarca die letzten Jahre gelebt und gearbeitet hatte, um die Atmosphäre in mich aufzunehmen. Ich arbeitete insgesamt über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren an den beiden Sonettenkränzen und den vor- und nachgestellten poetisch-poetologischen Texten. Eigentlich wurden Sonette ursprünglich wahrscheinlich zu einfachen Melodien gesungen. Adrian Willaert hat Petrarca-Madrigale komponiert. Da hat mich schon während der Arbeit daran die Idee nicht mehr losgelassen, dass sie vielleicht musikalisch bearbeitet werden sollten. Mit Fritz Keil und Norbert Sterk habe ich über diese Idee allerdings erst gesprochen, als „herzkranzverflechtung“ schon publiziert war. Ich habe mit beiden Komponisten schon einige Male wunderbare Erfahrungen der künstlerischen Zusammenarbeit genießen dürfen. All das führte zu diesem Projekt.
Warum die strenge Form des Sonettes in einer Zeit, in der Kunst bestenfalls Regeln akzeptiert, die sie sich selbst stellt?
Das ist eine interessante Frage, auf die es wahrscheinlich mehrere Antworten in mir gibt. Eine Spur führt zu einem Gedanken, der in einer Sentenz des Dichters W.H. Auden auf den Punkt gebracht ist: „Form löst die Fesseln des Selbst“. Die Auseinandersetzung mit der Form, so auch in der Dichtung und im Speziellen mit dem Sonett, trägt eine ungeheure Anziehungsenergie in sich, sie ist Träger kollektiver Entwicklungen und Themen der Menschheit. Das Gedicht ist sowohl ein Phänomen innerlichster individueller sprachlicher Ausdruckskraft („interior intimo meo“, wie Augustinus sagt) als auch ein abstrahierter überindividueller künstlerischer Speicher grundsätzlicher Themen und Bedingungen von Menschen auf diesem Planeten mit hoher ästhetischer und reflexiver Kraft. Mir scheint, dass dies besonders bei so strengen, komplexen und lang tradierten Formen der Fall ist. Das Sonett entstand wohl etwa um 1230, wobei seine Entstehungsgeschichte nicht vollständig gesichert ist. Es scheint erstmals am Hof Friedrichs des II. in Sizilien in den Schriften einer Dichterschule auf; als sein Erfinder gilt Giacomo da Lentini. Ein kulturelles Amalgam scheint dies ermöglicht zu haben: Canzone, Strambotto, arabische Dichtung aus al-Andalus wie auch das Phänomen der Muwashah-Dichtung sind mögliche Einflüsse, die eine Form entstehen ließen, die in der Dichtung bis heute weiterwirkt.
Wie daran teilhaben, selbst substantiell beitragen im 21. Jahrhundert? Diese Korrespondenz über Kulturen und Jahrhunderte hinweg ist atemberaubend spannend und trägt das Potenzial in sich, vielleicht ein wenig tiefer unter die Oberfläche unserer Seinserforschung tasten zu können. Das Musterhafte, die Regeln machen Abweichungen und Überschreitungen deutlicher wahrnehmbar und setzen möglicherweise eine Sensibilisierung in Gang. Der Wert der mannigfaltigen kulturellen Erfahrungen und Perspektiven kommt mir äußerst aktuell und wichtig vor. Die sprachlichen Symbolisierungen jenseits eines allzu raschen oberflächlichen Verstehens verflechten sich in solchen komplexen Strukturen zu einem überindividuellen Erfahrungsgewebe. Und überhaupt ist es ein Wiedererinnern, dass wir bestenfalls tastend – lauschend – schöpferisch ahnen und konstruieren, mit all unseren Sinnen, dem Verstand und dem Herzen. In einem Gedicht gibt es viele Schichten; die wörtliche Bedeutung ist nur eine davon. Es existiert eine Art Gleichzeitigkeit und Gleichgültigkeit von Lautlichkeit, Bedeutung, Rhythmus, Klang usw. Gedichte sollte man – nicht nur, aber auch – hören wie Musik. Und so habe ich Motive wie Identität, Liebe und Dichtung in meinem ersten Sonettenkranz alle in dem Hauptsymbol „Herz“ aufgegriffen. Dieses Herzgeschehen wollte ich außen wie innen poetisch erforschen. Deshalb ein Stammsonett und von dort ausgehend zwei Sonettenkränze. In die Zwischenräume fügen sich also Verszeilen mit anatomisch physiologischen Wortfeldern des Herzens als eine Art konkret organisches Innengeschehen. Schlagend, pumpend, Reizleitungsfunken schlagend und mehr. Diese ergeben eine andere alte Gedichtform, die Terzine …
„Identität“ ist ja in letzter Zeit ein viel und kontrovers diskutiertes Thema . . .
Was bedeutet es heute, von Identität zu sprechen? Gehen wir noch von einem einheitlichen Bild eines Individuums aus? Oder sind wir nicht gleichzeitig mindestens ebenso Dividuen wie Individuen, also in viele Fragmente, Stimmen und Eigenschaften geteilte Wesen? Wir sind also immer mehrere zugleich, und wir stehen immer drinnen und draußen zugleich. Sind also, wie es Kierkegaard so schön beschrieben hat, Subjekt und Objekt unserer eigenen Betrachtung. Das Konstrukt und die Frage nach Identität ist jedenfalls eines der Hauptmotive in meinem ersten Sonettenkranz und einigen begleitenden Texten.
Wie nimmst Du die Sonette nach deren musikalischer Bearbeitung wahr? Sind es noch Deine Werke?
Wenn ich in so ein Projekt einsteige, dann lasse ich meine Arbeit einfach los und erfreue mich daran, wohin es sich entwickeln darf, wenn KomponistInnen und MusikerInnen mit ihren Energien daran weiterarbeiten. Es entsteht, so scheint mir, ein Gemeinschaftswerk, das etwas entschieden Neues ist, sein soll, ja sein muss. Und nun also alle Vorfreude und Spannung, was daraus geworden ist. Ich freue mich darauf, es sehen, hören und atmen zu dürfen und auf jeden interessierten Menschen, der uns dabei lauschend begleitet und das ganze Projekt erst komplettiert!
Semier Insayif (*1965) lebt als freier Schriftsteller, Kulturmanager und Konsultant in Wien. Er gibt regelmäßig Lesungen und Sprechperformances im In- und Ausland. Seine Gedichte und Romane, die immer wieder auch im Radio zu hören sind, erscheinen bei den Verlagen Haymon, Hochroth und Klever.