Anlässlich des 75. Gründungsjubiläums der Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik hat Morgana Petrik deren langjährigen Vizepräsidenten zum Interview gebeten.
Morgana Petrik: Lieber Leo, Du bist seit 1998 Vorstandsmitglied der ÖGZM. Ganz provokant gefragt: Was hat Dich so lange gehalten?
Leopold Schmetterer: Es gibt da gleich mehrere Gründe. Erstens war ich damals mit der ÖGZM schon lange verbunden durch die Aufführungsserien des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, und schon seit 1989 als Mitglied. Es ist die große Liebe zur Musik und das Interesse am Schaffen neuer Werke, das mich stets mit deren Komponisten den Kontakt suchen ließ. So gab es keinen Zweifel, dass ich vor 26 Jahren auf die Anfrage, als Vizepräsident zu kandidieren, zugesagt habe.
Zweitens ist haben mich Organisation und Durchführung von Aufführungen ebenfalls interessiert, zumal ich bei vielen Konzerten selbst als Interpret tätig war. Und drittens gibt es bei Musikern ein gewisses Ethos: wenn man einmal für etwas zugesagt hat, muss man auch dazu stehen, selbst wenn es plötzlich verlockendere Angebote gäbe. Meine Stellung als Vizepräsident wurde die ganze Zeit über nie infrage gestellt, und daher habe ich diese Aufgabe immer wieder übernommen, weil es mir als Pflicht erschien.
Das hauptsächliche Anliegen der ÖGZM ist und war schon immer die Förderung und Verbreitung der österreichischen Gegenwartsmusik sowie deren Verankerung im öffentlichen Musikleben. Wie sieht es aktuell – gegen Ende des ersten Quartals des 21. Jahrhunderts – mit diesem Anspruch aus?
Ich glaube, dass die ÖGZM diese Aufgabe in gewissenhafter Form erfüllt. Es gab in der langen Zeit ja nicht nur eine Öffnung zu jüngeren Generationen, sondern auch, bedingt durch die avancierten technischen Möglichkeiten, zu neuen Medien der zeitgenössischen Musik, also zu elektronischer und Computermusik. Durch die Qualität der Darbietungen ist die ÖGZM auch international präsenter geworden ‒ ein wichtiger Schritt gerade in unserer globalisierten Welt.
Wie würdest Du die inhaltlichen und programmatischen Schwerpunkte beschreiben, die die vier ÖGZM-Vorsitzenden, denen Du als Vizepräsident zur Seite gestanden bist, gesetzt haben?
Ich möchte hier nicht auf die Gemeinsamkeiten im Führungsstil der Präsidenten eingehen; sie alle hatten das Beste für unsere lebenden Komponisten im Sinn. Es ist aber auch so, dass es Unterschiede gibt, die mir klar vor Augen stehen:
Mein erster Präsident, Prof. Peter Roczek (1991 – 2001), war ein Bewahrender. Das Tonkünstlerorchester, dessen Direktor er war, spielte jährlich bis zu vier Konzerte für die ÖGZM, der ORF war dabei, und es gab viele Mitarbeiter, die kleinere Konzerte organisierten.
Werner Hackl, 2001 – 2008 Präsident der ÖGZM, war der Meinung, dass jedes Mitglied zumindest eine Aufführung pro Jahr haben sollte. Er veranstaltete daher viele Konzerte, mit oftmals recht kleinem Publikum (und kleinem Budget), aber es gab eine Kontinuität in der Abfolge von Aufführungen verschiedenster Art. Natürlich half ihm dabei auch seine Dozentur an der Wiener Musikuniversität.
Mit Dr. Christian Heindl wurde Ende 2008 alles anders. Er war radikal im Umbau der ÖGZM. Für ihn war Qualität oberstes Prinzip. Er beendete die „billigen“ Konzerte und legte Wert auf gute, manchmal auch teure Interpreten. Er förderte ausschließlich Komponisten, deren Werke er für wert hielt, auch in der Zukunft aufgeführt zu werden. Leider wurde er nicht von allen Mitgliedern verstanden.
Mit der Wahl von Dr. Morgana Petrik im März 2011 änderte sich an der Linie eigentlich nichts. Aber sie bringt es fertig, mit Charme den Weg der Qualität zu begründen und hat durch ihre lange Präsidentschaft bewiesen, dass ihre Art, die ÖGZM zu führen, genau richtig ist. Mit ihr bin ich am längsten zusammen und es hat mit ihr kaum jemals Diskussionen über die Führung der ÖGZM gegeben.
Du hast immer wieder als Solist oder als Mitglied des ÖGZM-Ensembles bei Konzerten der ÖGZM mitgewirkt. Welche Werke, die Du gespielt hast, haben die intensivsten Eindrücke hinterlassen?
Das waren unglaublich viele. Ich war Musiker im Tonkünstlerorchester, ich war Solist auf der Bratsche und auf der Orgel. Wir haben mit unserem Streichquartett einiges zu Gehör gebracht, und ich habe auch in anderen Kammerensembles mitgewirkt. Ich darf aus jedem Genre kurz ein Werk und einen Komponisten erwähnen:
Als Orchestermusiker bleibt mir vor allem eine Aufführung des Oratoriums „Das Hohelied Salomos“ op. 26 von Heimo Erbse in Erinnerung, das einerseits leicht sing- und spielbar ist, andererseits aber doch den damaligen Geist der zeitgenössischen Musik atmet. So habe ich mir damals ein gutes liturgisches Werk vorgestellt. Dann möchte ich mit der Aufführung eines Streichquartetts von Michael Wahlmüller fortsetzen, von dem ich bei der Probenarbeit gesagt habe, es erinnere mich an einen Waldspaziergang unter hohen, geraden Bäumen. Das Konzert fand im seinerzeiten Haus der Komponisten in der Ungargasse statt; an der Wand hing ein Tapetenteppich mit lauter vertikalen, braunen Strichen auf grünem Grund ‒ also der visuelle Waldspaziergang, den ich mir vorgestellt hatte.
Mit Heinrich Gattermeyer verband mich eine jahrelange Freundschaft, und so war es keine Wunder, dass ich in einem privaten Huldigungkonzert zu seinem 75. Geburtstag seine Sechs Grotesken für Viola und Klavier zu spielen gebeten worden bin. Das Werk ist nicht schwer, hat aber im letzten Satz eine knifflige Kadenz, die ich zu üben immer vor mir hergeschoben habe. Bei der Generalprobe bin ich auf den Fehler aufmerksam geworden und wusste: in den verbleibenden drei Stunden bis zum Konzert schaffe ich den getreuen Wortlaut nicht mehr. Also habe ich aufgrund des Notenmaterials und meiner guten Kenntnis des Kompositionsstiles von Heinrich Gattermeyer aufs tollste improvisiert. Gattermeyer war anschließend begeistert: „So grandios habe ich es noch nie gehört! Selbst“ – dann folgte der Name des damaligen Solobratschers der Wiener Philharmoniker – „hat das nicht so schön gespielt!“
An der Orgel habe ich für die ÖGZM ein Konzert in Weißenkirchen an der Perschling gegeben, der größten Orgel, die mir damals zur Verfügung stand. Franz Thürauer, von dem ich ein Stück spielte, war extrem überrascht, was auf einer Landkirchen-Orgel für Klänge hervorgezaubert werden können, während Herbert Zagler enttäuscht war, dass ich den letzten Satz seiner Orgelsonate auslassen musste, weil die Orgel die Spitzentöne in Manual und Pedal nicht besitzt. So stand ich nach der Aufführung einem bewundernden und einem zürnenden Komponisten gegenüber.
Von Ende der 1960er bis Ende der Neunzigerjahre spielte das Niederösterreichische Tonkünstler-Orchester, bei dem Du Stimmführer und Solo-Bratschist warst, jährlich zwei bis drei Konzerte für die ÖGZM, auch in Kombination mit renommierten Solist:innen oder Chören. Mitunter wurden da rein oder überwiegend zeitgenössische Programme gespielt. Wieso, denkst Du, ist heute kein Orchester mehr dazu bereit?
Die Zeiten und die Politik haben sich extrem gewandelt. Wie leben in einer ausschließlich wirtschaftsorientierten Zeit, in der Profit mehr Wert hat als die Kultur. Der ORF, der damals Sendezeit und -saal bereitwillig zur Verfügung gestellt hat, hat die zeitgenössische Musik als nicht quotenbringend auf das Minimum reduziert; Privatsender kennen die klassische Musik, und vor allem die zeitgenössische, eigentlich gar nicht. Und die Orchester? Die sind jetzt GmbHs, die an voll ausgelasteten Sälen interessiert sind, was die gegenwärtig geschaffenen Musik schon wegen der noch wenig bekannten Namen ihrer Komponistinnen und Komponisten nicht zu leisten vermag. Die Medienwelt hat es nämlich versäumt, klar in den Raum zu stellen, dass sich auch das Publikum ändern muss in seinen Ansprüchen und Erwartungen, weil die „klassische Musik“ nicht mit Beethoven, oder meinetwegen mit Richard Strauss endet. Das konservative Konzertpublikum geht nicht gerne mit, wenn – wie z.B. seitens des Tonkünstler-Orchesters – Kompositionsaufträge vergeben und die so entstandenen Werke zumindest einmal jährlich auch aufführt werden. Andererseits sehe ich einen Lichtblick in den vielen Kammerorchestern, die sich auch der zeitgenössischen Musik widmen und somit eine neue Klientel an Zuhörern heranziehen. Dieses Publikum teilt nicht die Voreingenommenheit jahrelanger Abonnement-Besitzer.
Im Laufe Deiner Karriere hast Du auch sehr viel Engagement für die musikalische Jugendarbeit gezeigt. Welche Schwerpunkte wurden um die letzte Jahrtausendwende gesetzt? Und wie, denkst Du, ist es in einer Zeit, in der Smartphones und TikTok den Alltag der Jugendlichen signifiant beeinflussen, um den Orchesternachwuchs bestellt?
Das ist eine Frage, deren Antwort mir wirklich sehr am Herzen liegt. Seit fast fünfzig Jahren betreue ich im Jugend Symphonie Orchester Niederösterreich (kurz: JSO) nicht nur meine Bratschengruppe, sondern auch alle anderen Streicher, und bin ich stets bis zum Ende einer Arbeitsphase dabei, um dem jeweiligen Dirigenten zu assistieren. Das JSO führt immer wieder Werke von Zeitgenossen auf, die die Jugendlichen manchmal rhythmisch und technisch fordern. Aber gerade die jungen Spieler bemühen sich extrem und finden es „spannend“ bis „toll“, Zeitgenössisches zu spielen. Diese junge Generation lässt sich durchaus von der Begeisterung für alles, was Musik ist, anstecken. Sie ist offen für neue Impulse, sei es nun ein Crossover mit dem Bläserensemble „Federspiel“ oder etwa ein Ensemblewerk von Flora Geißelbrecht.
Das Smartphone spielt natürlich heute eine gewisse Rolle, aber das Musizieren am Instrument ist den Jugendlichen genauso wichtig. Man muss ihnen nur die musikalischen Hintergründe der zu spielenden Werke erklären, und vor allem, warum ich sie mit Freude selbst spielen mag.
Lieber Leo, ich danke Dir für das Interview! Mögest Du der ÖGZM und mir noch lange erhalten bleiben!