Categories
Aktuelles En plus Webmag

En plus: Automatenklavier

Ein Interview mit Alisa Kobzar, Orestis Toufektsis und Winfried Ritsch zum Konzert am 4.10.2024 beim musikprotokoll.

Diesen Artikel teilen:

Dem Ensemble Zeitfluss, das im Rahmen des ORF Musikprotokolls 2024 ein Konzert geben wird, gesellt sich ein Solist hinzu, der außerhalb von Graz zurzeit noch recht wenig bekannt ist: der Automatenklavierspieler. Dieses Prachtexemplar der deutschen Substantivverkettung meint einen Klaviaturaufsatz, der aus 88 Hubmagneten samt zugehöriger Elektronik besteht. Der vom Grazer Computermusiker Winfried Ritsch entwickelte robotische Spieler erweitert die Möglichkeiten des allseits bekannten Tasteninstrument um ein Vielfaches dessen, was selbst das virtuoseste Spiel mit zehn Fingern zu leisten imstande ist.

Die ÖGZM-Mitglieder Elisabeth Harnik, Alisa Kobzar und Orestis Toufektsis wurden für diesen Anlass mit Neukompositionen beauftragt. Vorab zu den Uraufführungen am 4. Oktober haben wir letztere beide und Winfried Ritsch zum Interview gebeten.

Eure Kompositionen »Projections« (Alisa Kobzar) und »Timescales 4« (Orestis Toufektsis) weisen ein ungewöhnliches Soloinstrument auf: das Automatenklavier. Wie seid ihr damit in Berührung gekommen?

Alisa Kobzar: Schon während meines Studiums am IEM (Anm.: Institut für Elektronische Musik und Akustik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz) erkannte ich in Winfried Ritschs robotischem Klavierspieler ein mysteriöses Medium – einen weitläufigen Raum zur Selbstverwirklichung für Komponist*innen der Computermusik.
Bei einem Workshop im Frühjahr 2024 konnte ich erstmals selbst damit arbeiten; dabei kam mir auch die Idee der „Klangfarben Annäherungen“ (en: Timbre Approximations), die für »Projections« wichtig werden sollte.

Orestis Toufektsis: Das Automatenklavier kenne ich aus früheren Konzerten mit Werken, die speziell für dieses besondere Instrument komponiert worden waren. Irgendwann ist die Idee entstanden, es in einer größeren instrumentalen Besetzung zu verwenden. Meines Wissens gab es bisher kaum Werke für diese Besetzung. Das ist auch ein spannender Aspekt dieses Projektes.

Winfried Ritsch, Sie entwickeln das Automatenklavier seit mehr als 20 Jahren. Welcher Weg hat zum heutigen Modell geführt?  

Winfried Ritsch: Eigentlich wollte ich gar kein eigenes Automatenklavier bauen, sondern vorhandene Player Pianos verwenden, aber vor einem bereits geplanten Konzert stellte sich heraus, dass keines davon die gewünschten Eigenschaften hatte ‒ angefangen von der Steuerung über die Anzahl der parallel anschlagbaren Tasten bis hin zur Bandbreite der möglichen Dynamik.

So wurde „Kantor“, mein erster klobiger Prototyp mit über 120 kg und 3 kW Leistung, geboren. Für das Sprechende Klavier gab es etwas später ein verbessertes Modell, das nur noch 60 kg wog und eine elaboriertere Elektronik hatte. Für das Musiktheater „Maschinenhalle“ wurden dann zwölf Stück benötigt, wobei die heutige Version „Rhea“ entstand. Dafür wurden auch spezielle Magneten entwickelt, die den Automaten mit nunmehr lediglich 30 kg auch Tour-fähig machten.

„Sprechendes Klavier“

Ist das Automatenklavier dabei serienreif geworden? 

WR: Die erste Kleinserie von zwölf Stück war schon ziemlich weit entwickelt, aber bis zur wirklichen Serienreife sind noch ein paar Schritte zu gehen. Als DIY-Instrument, als Open Hardware, ist es so gut wie fertig, wiewohl es in der Zwischenzeit auch immer wieder verbessert wurde.

Der mechanische Aufsatz auf der Klaviatur des Flügels, der am 4. Oktober auf der Bühne stehen wird, sieht spektakulär aus: 88 Hubmagneten, ein stählernes Gerüst, ein dichtes Netz aus frei einsehbarer Elektronik, blinkende LEDs; und doch dominiert visuell das Klavier . . . kann der Automat auch klangliche und instrumentale Qualitäten entwickeln, die über jene des Klaviers hinausgehen?

WR: Klanglich hoffentlich nicht, damit meine ich, dass Eigengeräusche möglichst nicht hörbar sein sollten. Der Automatenklavierspieler ist eigentlich die Erweiterung des mechanischen Klaviers als Maschine: Man drückt Tasten, und es kommen Töne heraus. Was das Fortepiano historisch besonders ausmachte, war die Dynamik, das leise und das sehr laute Spiel. Ebendiese Fähigkeit hatte keiner der mir bekannten Klavieraufsätze früherer Bauart. Mein Modell hat 88 Finger mit verschiedenen Anschlagstärken und Wiederholungsraten, die über das hinausgehen, was das mechanische Klavier bietet.

OT: Ich würde die Frage mit “ja” beantworten, obwohl das jeweils verwendete mechanische Klavier und seine klanglichen Qualitäten die Rahmenbedingungen des „Automaten-Könnens“ in dieser Hinsicht definieren. Es wäre interessant, ein spezielles Klavier für den Automaten zu bauen.

Ich betrachte den Klavierautomaten als ein besonderes Instrument. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Klavier und Klavierautomat besteht darin, dass bei letzterem die Einschränkungen in Bezug der Greifbarkeit wegfallen. Das eröffnet Möglichkeiten hinsichtlich der harmonischen Komplexität, und das in einer unglaublichen Präzision ‒ ein für mich kompositorisch ganz wichtiger Aspekt.

Beim Klavierautomaten gibt es diese Diskrepanz in der Form nicht.

Orestis Toufektsis

Versteht Ihr Eure neuen Werke als Klavierkonzerte?

AK: Ich habe die formale Gestalt des Klavierkonzerts eher frei interpretiert. Im Stück erkunde ich das Verhältnis zwischen Soloinstrument und Orchester anhand einer Lehrer-Schüler-artigen Imitation: zuerst versucht das Klavier, etwas vom Ensemble zu lernen, scheitert aber an seinen eigentümlichen Einschränkungen. Es internalisiert also, was es vom Ensemble lernen kann, und bringt dies im Gegenzug dem größeren Klangkörper bei.

OT: Gute Frage; was versteht man heutzutage noch als „Instrumental-Konzert“? Reicht es, wenn ein Instrument mehr oder weniger dominant in einer Komposition eingesetzt wird, was ja in meinem Stück der Fall ist? Dann würde ich die Frage trotzdem mit einem eindeutigen „Nein“ beantworten. Es geht darin viel mehr um unterschiedliche Möglichkeiten der Generierung musikalischer Strukturen und der Klanggestaltung. Einer der spannenden Aspekte der kompositorischen Arbeit ist für mich die musikalisch absolut wertvolle, feine Diskrepanz zwischen den kompositorisch (meist) sehr präzise gedachten musikalischen Strukturen und der „heiligen Ungenauigkeit“ bei deren Wiedergabe bzw. Interpretation. Ich „spekuliere“ auch oft beim Komponieren mit dieser Transformation im Prozess “Lesen-Interpretieren-Erklingen lassen ”. Beim Klavierautomaten gibt es diese Diskrepanz in der Form nicht. Und trotzdem, obwohl der Input, die Steuerung des Klangerzeugungsmechanismus theoretisch absolut präzise ist, entzieht sich der Klang in seinen feinsten Schattierungen und Qualitäten immer unserer absoluten Kontrolle, auch dadurch, dass hier auf einem akustischen Instrument Klänge möglich werden, die spieltechnisch nicht realisierbar sind.

Im Laufe der Jahre haben unterschiedlichste Komponisten*innen und Klangkünstler*innen mit dem Automatenklavier gearbeitet. Welcher Aspekt des Instruments macht es für seinen Erbauer besonders und dauerhaft reizvoll?

WR: Am faszinierendsten sind natürlich die exzessiven Leistungen: wenn die Maschine ein Spiegelbild des Menschen ist, also etwas macht, was der Mensch nicht mehr machen muss, und das besser und viel ausdauernder. Wenn dann noch das Ergebnis, der Klang des Klaviers, der über den gewohnten Klang des Klavierspiels hinausgeht, nicht mehr nachvollziehbar ist, dann wird es interessant, und wenn dieser Klang dann noch in der Wahrnehmung kippt und man das Klavier sprechen anstatt zu spielen hört, dann geht das weit über das Instrument und die Wahrnehmung als Maschine hinaus.

Automatenklavier | Foto: Martin Gross, escmedienkunstlabor

Nun möchte ich auf die Titel Eurer Kompositionen zu sprechen kommen: »Timescales 4«. Was bedeutet Zeitlichkeit im Kontext eines mechanischen Instruments für Dich? Behandelst Du Automat und Ensemble hier unterschiedlich?

OT: Die Zeitlichkeit denke ich nicht in Bezug auf Instrumente, auch nicht in Bezug auf ein mechanisches Instrument. Zeitlichkeit ist ein zentraler Aspekt meines allgemeinen formalen kompositorischen Denkens. Musik ist für mich durch Klänge gestaltete Zeit: Gestaltet wird, wie wir die Zeit wahrnehmen. Es gibt aber beim Automatenklavier einen Aspekt, der doch anders als bei herkömmlichen Instrumenten ist: Ich arbeite viel mit Wiederholungen von Elementen, die aber stets in einem anderen, neuen musikalischen Kontext erscheinen. Die exakt gleiche musikalische Struktur bzw. Figur kann unmöglich exakt wiederholt werden. Das ist ein Teilaspekt dieser „heiligen Ungenauigkeit“, von der wir bereits gesprochen haben. Beim robotischen Klavierspieler muss ich, wo es musikalisch notwendig ist, diese feinen Differenzen selbst komponieren.

Und »Projections«? Dieses Wort hat viele Bedeutungen. Auf welche beziehst du dich?

Wenn man ein Bild vergrößert, stellt man plötzlich all die nunmehr erscheinenden Imperfektionen und rauschhaften, unscharfen Details fest.

Alisa Kobzar

AK: Während des Kompositionsprozesses waren mir die vielen unterschiedlichen Bedeutungen meines Stücktitels bewusst, sodass dem Publikum die Wahl bleibt, ihn frei auf die eine oder die andere Bedeutung zu beziehen.

Am einfachsten verständlich wird er wohl als „das Hinauswachsen einer Sache über sich selbst“ – wie der Roboter am Klavier, der bestrebt ist, ein Pianist zu werden. Im Kontext meines Stücks kann man sich aber auch eine romantische Metapher vorstellen: das robotische Klavier, das davon träumt, vom Menschen zu lernen und über sich hinauszuwachsen. Ich verstehe die Projektion aber auch als Annäherung: Wenn man ein Bild vergrößert, stellt man plötzlich all die nunmehr erscheinenden Imperfektionen und rauschhaften, unscharfen Details fest.

Du sprichst von unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung und Produktion von Klängen: der menschlichen, der mechanischen und der digitalen. Welche Methoden hast du angewandt, um diese Paradigmen gemeinsam auf die Bühne zu bringen?

AK: Ich habe an meinem Stück sowohl auf digitale als auch analoge Weise gearbeitet – mit meinen Ohren und dem Stift in der Hand (zur Transkription von Gehörtem) und mit der Computernotation der Niederschriften der verschiedenen verwendeten Algorithmen. Darüber hinaus habe ich Klangsimulationen erstellt, das Automatenklavier gesampelt und als Lexikon verwendet, meine eigenen Improvisationen am Klavier aufgenommen und sie dem Roboter zur Interpretation übergeben, kurzum: Ich sehe das Komponieren als einen Prozess, der in beide Richtungen geht: hin zum akustischen, idiomatisch instrumentalen Denken, aber auch zum digitalen, robotischen Denken und Musizieren. Beide Methoden haben ihre Beschränkungen und Fehlerquellen. Ich genieße es, diese Fehler, Störungen, Limitationen und die Unschärfe bestimmter Ergebnisse als mein kompositorisches Material zu nutzen.

Während des Konzerts bist Du auch als Interpretin mit dem Automatenklavier aktiv. Was dürfen sich Laien darunter vorstellen?

AK: Angenommen, wir hätten 88 unabhängige Finger und könnten diese mit unseren zehn Fingern kontrollieren, fände ich es unangemessen, lediglich Musik zu spielen, die für zehnfingrige Wesen komponiert wurde. Ich wollte einen Weg finden, mit allen 88 Fingern zu spielen und zu komponieren. In der Praxis kontrolliere ich also nicht die einzelnen gespielten Noten, sondern die generierten oder aufgenommenen Phrasen – welche davon gespielt werden, wie schnell, wie laut, etc. Dabei gehe ich aber weit über die Rolle einer Klangregisseurin hinaus: Es handelt sich um eine musikalische Darbietung mit dem Ensemble! Ich verändere die Phrasen des Klaviers in Echtzeit, ich spiele mit ihrer Geschwindigkeit, ich folge der Partitur und dem Dirigenten, und vice versa spielt auch die Maschine mit mir. Ich muss aufmerksam zuhören: tut der Automat, was ich erwarte, oder tut er es nicht?

Eine abschließende Frage: Gibt es aktuelle Entwicklungen bzw. geplante Erweiterungen des Automatenklaviers?

WR: Die meisten Roboter-Instrumente waren bisher Schlaginstrumente. Neuerdings interessieren mich Instrumente mit liegenden Tönen, also war die Entwicklung der Raumorgel „Phoibe“, eine im Raum verteilte Kirchenorgel, als erster Schritt. Der nächste Schritt ist der Gesang mit diesen Technologien.

Alisa, Winfried, Orestis ‒ vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Benedikt Alphart.

Diesen Artikel teilen: